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Lyonel Trouillot

Antoine des Gommiers

Inhalt

Franky und Ti-Tony sind Brüder, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Während Franky in der Vergangenheit und für Worte und Stilfiguren lebt, schlägt sich Ti-Tony mit der Gegenwart herum, um ihnen das Überleben in dem Armenviertel von Port-au-Prince zu sichern, in dem sie aufgewachsen sind. Dass sie angeblich von dem berühmten Wahrsager Antoine des Gommiers abstammen, bedeutet dem praktisch denkenden Ti-Tony wenig, Franky dagegen sehr viel. Er macht sich über den illustren Ahnen kundig und schreibt eine Biographie über ihn. Das Buchprojekt wird zu einem Abenteuer voller überraschender Wenden, wie sie selbst Antoine des Gommiers nicht vorhersehen konnte …

Ein zweistimmiger Roman voll Poesie und Humor über die Macht der Worte, Tragik, Hoffnung, Mythen und das Menschlich-Allzumenschliche.

Autorenportrait

Lyonel Trouillot wurde 1965 in Port-au-Prince geboren, wo er noch heute lebt. Nach einem Jurastudium wandte er sich ganz seiner eigentlichen Leidenschaft, der Literatur, zu. Er schreibt Lyrik und Prosa in kreolischer und französischer Sprache. Seine Romane, etwa Jahrestag (Bicentenaire) (Actes Sud 2006, Litradukt 2012), Les enfants des héros (Actes-Sud 2002), L’amour avant que j’oublie (Actes-Sud 2007), Yanvalou pour Charlie (Actes-Sud 2009) sowie La Belle Amour humaine (Actes-Sud 2011) machten ihn international bekannt und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Als Mitglied und Sprecher des Collectif Non, einer Initiative von haitianischen Intellektuellen, gehörte er zu den wichtigsten Opponenten gegen das Regime von Jean-Bertrand Aristide.

Lyonel Trouillot lehrt französische und kreolische Literatur an der Universität Port-au-Prince.

 

Leseprobe

Antoine des Gommiers, houngan* und Seher, von dem es heißt, er habe nie die Stimme erhoben, wenig gegessen, wenig getrunken und geschlechtliche Beziehungen zu seiner Frau und seinen Geliebten nur an den Donnerstagen der geraden Monate sowie jeden zweiten Mittwoch in den ungeraden Monaten unterhalten, hatte den Namen seines Dorfes ganz allein auf die Karte des Bezirks, des Landes, Amerikas, ja auf die Weltkarte gesetzt. Dank ihm steht Les Gommiers den historischen Städten – Le Cap mit seiner Zitadelle, Marchand-Dessalines mit seinen Forts, Camp Perrin mit seinen Grotten – in nichts nach. Die Ereignisse folgen aufeinander und verdrängen sich nach und nach aus dem Gedächtnis der Völker. Denkmäler verfallen, bröckeln, stürzen ein und werden oft zu Ansammlungen von Staub oder Steinsäulen, die alle Bedeutung eingebüßt haben. Die Geschichte überdauert die Zeiten nicht so gut wie die Legende. Will man Rüpel den Nutzen der Disziplin lehren, Schurken zur moralischen und Narren zur Ordnung des Realen rufen, will man die verwegene Inbrunst von Risikowütigen mildern, von Seiltänzern, Rasern, Spielsüchtigen, Tauchern, die ihr Forscherdrang in die Tiefen des Meeres zieht, Wegelagerern, die die Reisenden erpressen, sexuell Besessenen mit übertriebenem Energieverbrauch, Politikern, die sich hartnäckig an die Macht klammern, oder gierigen Erben, die ihre Geschwister um ihren Anteil zu prellen suchen, will man im Herzen eines Opfers, das sich dümmlich den Launen seines Tyrannen unterwirft, den Ruf der Revolte ertönen lassen und will man die Erkenntnisse volkstümlicher Weisheit verstärken, welche sich in Redensarten wie »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott«, »Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen« oder »Man erntet, was man sät« niederschlagen, kurzum, will man gegen die zahlreichen Abwege ankämpfen, auf die sich die Menschen im Laufe ihres Lebens verirren, so ruft man noch heute den Mann aus Les Gommiers zu Hilfe, denn wer immer sich Exzessen und Ausschreitungen hingibt, bekommt, in Voraussicht der unheilvollen Folgen seines Fehlverhaltens, die Drohung zu hören: »Wenn du im Irrtum verharrst, wird dir ein Unglück geschehen, das selbst Antoine des Gommiers nicht vorhergesehen hat.«

* Voodoopriester.

Oh Schrecken der Schrecken! Welche ungeahnte Katastrophe ist wohl der Hellsichtigkeit des Meisters entgangen? Der Zweifel verleiht der Drohung zusätzliche Kraft, heißt es doch, Antoine des Gommiers habe alles vorhergesehen, was an Gutem, vor allem aber an Schlimmem geschieht: Liebe und ihr Ende, Hungersnöte, Weltkriege, die Ermordung eines Präsidenten noch vor seiner Geburt, den Engel oder den Tyrannen unter der Haut des Säuglings, große Schicksale, Kleinmut, Wetterberuhigungen, schwere Gewitter, Seelenadel, Fehlgeburten, fehlgeleitete Tugend, verfehlte Ziele, Fehldarstellungen, das Gute, das Böse und das, was dazwischen liegt. Die Bewohner von Les Gommiers können stolz auf den Harzduft ihrer Haare und ihrer Kleider sein, der beweist, dass Mensch und Natur ineinander übergehen, auf die kleinen Wälder, die die Erosion überstanden haben und ihren ersten Liebschaften Unterschlupf bieten, sowie auf ihre Freundschaft mit dem nordé, einem kühlen, trägen Wind, der über die Strände weht, die Ausfahrenden begleitet und die Rückkehrer empfängt. Am stolzesten aber sind sie darauf, dass sie auf siebenundzwanzigtausend Quadratkilometern als Einzige einen Ort bewohnen, der einen Menschen hervorgebracht hat – aber war er ein Mensch im gewöhnlichen Wortsinn? –, der in die volkstümliche Sprache und Rede eingegangen ist. Von allen Orten des Landes ist Les Gommiers der einzige, der im gesamten Gebiet umherreist und Bestandteil aller Gespräche, aller Vorfälle und Unfälle im privaten wie im öffentlichen Leben ist. In den Vorzimmern, den Alkoven und den mondänen Zirkeln, bei Staatsstreichen und in Vorstandssitzungen, in Cité l’Éternel ebenso wie in Cité Carton*, wo der Schlamm gelegentlich mannshoch steht und die Abfälle am Strand sich verfestigen, ins Meer vorrücken und kleine Inseln bilden können: Wann immer man darauf zu sprechen kommt, welchen Weg man einschlägt, ob man sich treu bleibt oder sich über sich selbst täuscht, spricht eine Stimme die Worte: »Wenn du im Irrtum verharrst …«

* Cité l’Éternel, Cité Carton: Armenviertel von Port-au-Prince.

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