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Georges Anglade

Das Lachen Haitis

»Das Lachen Haitis zu lesen, rührt an die tiefsten Gründe und Abgründe des Menschlichen und Allzumenschlichen. Anglade ist ein wirklich großer Schriftsteller, und seine Geschichten sind traurig, aber wunderschön.« Lutz Bunk, Deutschlandradio Kultur

Inhalt

Die lodyans, eine bis nach Afrika zurückreichende Erzählform, gehört zur haitianischen Kultur wie das Kreolische oder der Voodoo. Georges Anglade hat dieses Genre wiederentdeckt und wiederbelebt. In diesem Band sind neunzig lodyans zu einem Mosaik Haitis vereinigt, das die Provinz, die Hauptstadt und das Milieu der Auslandshaitianer umfasst. Dank Georges Anglades Humor funkeln seine reichen Erfahrungen immer wieder in tausend überraschenden Facetten. Wer dieses Buch liest, für den steht Haiti nicht mehr nur für Chaos und Diktatur. Ein Werk voll überraschendem Witz, Weisheit und Wärme, das literarische Hauptwerk des großen Humanisten Georges Anglade.

Autorenportrait

Georges Anglade, geboren 1944, aufgewachsen in der haitianischen Provinz, war als Geograph Autor mehrer Standardwerke über Haiti und führendes Mitglied der Demokratiebewegung seines Landes, deren Manifest er verfasste.Ein scharfzüngiger aber nie zynischer politischer Satiriker, der den meisten seiner Kollegen zwei Erfahrungen voraus hat: das Gefängnis (unter Duvalier) und ein Ministeramt (unter Aristide). Den haitianischen Lesern war er auch als Kolumnist der Zeitung Le Nouvelliste bekannt. Als Literat pflegte er das Genre der lodyans, das er als die typisch haitianische Literaturgattung wiederentdeckt und wiederbelebt hat. Georges Anglade starb am 12. Januar 2010 bei dem Erdbeben in Haiti.

Leseprobe

Zwei Bettler, die der zu Ende gehende Herbst von den rentablen Bürgersteigen der Rue Sainte-Catherine im Zentrum von Montreal zu vertreiben drohte, wetteten, bereits gekleidet wie Haitianer im Winter, wer von ihnen sich in der anbrechenden schlechten Jahreszeit am besten aus der Affäre ziehen würde. Damit die Bedingungen gleich waren und es nur auf ihre Bettelkunst ankam, vereinbarten sie einen Ort, einen Tag und eine Uhrzeit, um sich in der Almosenjagd zu messen.

Die beiden Haitianer, denn sie waren Haitianer und wettbegeistert wie nur Haitianer es sein können, für die Wetten die einzige Hoffnung ist, zogen also beide am nächsten Samstag ihre taucheranzugähnliche Montur an, um am ersten Oktober in der Station­ Berri-UQAM den internationalen Tag der Musik in der Metro zu begehen, ein Tag großer­ polizeilicher Toleranz, seit 1975 der Geiger Yehudi Menuhin dieses barocke Fest in Montreal begründet hatte. In der Schnorrerbranche ist dies die offizielle Eröffnung der Jagd auf den Eistaucher, den Vogel auf den Dollarmünzen.

Sie bettelten zwischen zwölf und fünf Uhr auf demselben Bahnsteig, der zur Station Henri-Bourassa im Norden führt, jeder vier Wagen, ohne Mogeln, der neunte Wagen in der Mitte diente als Pufferzone, damit nicht dieselbe Person zweimal angesprochen wurde. Und um die Wettbedingungen noch ausgeglichener zu gestalten, verständigten sie sich auf vier Runden von je einer Stunde mit Seitenwechsel und drei zwanzigminütigen Pausen, um einen Schluck zu trinken. Echte Profis eben.

Jedesmal, wenn eine Bahn einfuhr, liefen sie ihre Bahnsteighälfte ab und bettelten die aus den Geschäften der Innenstadt zurückkehrenden Passagiere an, bevor diese durch eine der sechzehn Türen das jeweilige Revier verlassen konnten.

Das Problem war, dass einer in vier Stunden dreihundert Dollar anhäufte, während der andere nur lumpige drei Dollar zusammenbrachte. Der Champion setzte sich klar durch, aber der übergroße Abstand war erstaunlich. Auch wenn der eine ein Neuling, frisch angeschwemmt von der letzten Welle aus dem verlorenen Paradies, und der andere­ ein weiser Alter war, der sich längst mit dem Schicksal des unauffindbaren Eldorado­ abgefunden hatte: Dieser Abstand war doch besorgniserregend.

Der erfolglose Bettler hatte an das Mitleid der Leute appelliert, indem er erklärte, neu im Land, Exilant und sogar politischer Flüchtling zu sein, aber diese Steigerung ließ niemanden in die Tasche greifen. Die Übung war ein solcher Fehlschlag, dass er sich an die vier Geber genau erinnerte: eine junge Mutter, der anzusehen war, dass sie ihre Zwillinge ruhigstellen wollte, indem sie jedem ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück für den schwarzen Herrn gab, einen zerstrubbelten Gitarrenspieler, den die gute Fortune dieses Tages veranlasst hatte, ihm einen Dollar zuzuwerfen, den er übrigens nur mit Mühe im Flug auffing, das junge Mädchen, das gerade ihr Portemonnaie ausgeräumt hatte, um fünfzig kupferne Ein-Cent-Stücke loszuwerden, und schließlich das gemischte Paar, das sichtlich kurz vor dem Krach stand. Die Frau benutzte ihn in beleidigender Weise, um ihren haitianischen Freund auf die Palme zu bringen, indem sie ihm ostentativ einen­ mickrigen Dollar gab. Er konnte also unter Hinunterschlucken seiner Würde sogar noch von Glück reden, dass er drei Doller geerntet hatte.

Der Gewinner hatte so ärgerlich souverän gesiegt wie ein unverdrängbarer Ranglisten­erster. Er ließ sich also eine Weile bitten, bevor er seinem Kollegen anvertraute, dass er den Leuten den ganzen Nachmittag erzählt hatte, er kehre endgültig in sein Land zurück, Betonung auf dem Adverb, und dass er noch Geld für den Flug brauchte. »Nur hin, ohne Rückflugmöglichkeit«, insistierte er.

Weniger als ein Dutzend Wörter im richtigen Rhythmus, davon fünf fettgedruckt.

Pressestimmen

litprom-Bestenliste Weltempfänger, Thomas Wörtche

Georges Anglade erfindet eine Tradition der oraliture als Prosaform neu: 90 lodyans – die spezifisch haitianische Form des zu kompakter Prosa kondensierten Lebens. Kondensierte Epen, Romane, Porträts, Chroniken, Erotika, Biographien, Tragödien, Komödien & Satyrspiele. Große komische Literatur im Miniaturformat. The world in a nutshell, virtuos komponiert und ziseliert. Weltliteratur aus einer in unserer Wahrnehmung marginalisierten Kultur. Grandios.

Auszug aus: litprom-Bestenliste Weltempfänger 2/2009, Thomas Wörtche

Deutschlandradio Kultur, Lutz Bunk

Eine der wichtigsten literarischen und politischen Stimmen Haitis ist sicherlich Georges Anglade. […] Jetzt stellt der litradukt-Verlag ein neues Buch von Anglade vor: Das Lachen Haitis. Neunzig Miniaturen, eine Auswahl aus vier Erzählbänden, die Anglade in den letzten zehn Jahren in Kanada veröffentlicht hat. […]

Die Clous der Storys versetzen den Leser regelmäßig in Schockstarre. Anglades Stil hingegen ist stets strahlend und von Lebensfreude und Witz geprägt, elegant und sinnlich – »eine Landschaft, schön wie am Morgen der Schöpfung, abgeschlossen wie in einem Heiligtum«. […]

Keine der 90 Geschichten zeigt auch nur einen Moment literarische Schwächen, im Gegenteil, eine ist besser als die andere. Anglades Sprache gleitet, mal poetisch und märchenhaft, dann wieder modern und eigenwillig expressionistisch: »Empörungsstoff«, »Diktaturgrammatik«, oder »Knast erfahren wie einen Auto-Crash«.
Anglades Stil ist voller Licht und Charme, und er zeigt sich als Meister der Beschreibung und genauster Beobachtung. Das Lachen Haitis zu lesen, rührt an die tiefsten Gründe und Abgründe des Menschlichen und Allzumenschlichen. Anglade ist ein wirklich großer Schriftsteller, und seine Geschichten sind traurig, aber wunderschön.

Auszug aus: Deutschlandradio Kultur Radiofeuilleton, Lutz Bunk, 22. Januar 2009

SWR2, Dina Netz

»90 Miniaturen« heißt das Buch von Georges Anglade im Untertitel. Aber der Begriff »Miniaturen« ist nur ein krückenhafter Behelf für lodyans, ein spezifisches haitianisches Literatur-Genre, dessen Wiederbelebung Georges Anglade betreibt; er nennt sie die »haitianische Fiktionsform par excellence«. Die Lodyans waren ursprünglich eine mündliche Form. […]

Die Sprache des Haitianers Georges Anglade ist bildhaft, direkt und voller Ironie. Sein überbordender Stil erinnert ein wenig an den magischen Realismus vom lateinamerikanischen Festland, nur dass Anglades Geschichten auch überquellen von Witz. […]

Georges Anglades Geschichten sind lustig, böse und traurig – alles zugleich. In ihnen allen spiegelt sich der Schmerz darüber, aus einem verlorenen Land zu stammen, dem man nur mit Haitis Lachen begegnen kann. Diese 90 Miniaturen sind wie eine Schatzkiste voller Perlen: manche davon strahlend hell, andere mit Einschlüssen oder von düsterem Glanz.

Auszug aus: SWR2 Forum Buch, Dina Netz, 15. Mai 2009

Kulturradio, Katharina Döbler

Dem ersten Teil des Bandes […] liegen frühere Erfahrungen zugrunde, nämlich die Ereignisse in einer kleinen Küstenstadt der 1950er Jahre: Von der mit Spannung erwarteten Grabinschrift einer Lehrerin wird da erzählt, von einer überflüssigen Totenwache, von Markttagen und Liebeszauber; und es klingt wirklich so, als säße da jemand heiter und seines anspruchsvollen Publikums bewusst, bei einem Glas Rum oder zwei, und gäbe Anekdoten zum besten. Die Heiterkeit allerdings schwindet im Lauf des Buches und der Zeit; das Lachen bleibt, aber es wird härter, wenn es um das Leben in Port-au-Prince unter dem Diktator Duvalier und schließlich um das kanadische Exil geht.

Wenn man sich, Geschichte für Geschichte, durch dieses Leben in Lodyans liest, ist man bestens unterhalten, empört und gerührt.  Und traurig, dass es keine weiteren Lodyans von Anglade mehr geben wird: Er kam, zusammen mit seiner Frau, bei dem Erdbeben 2010 in Port-au-Prince ums Leben.

Auszug aus: Kulturradio, Zum Wiederlesen empfohlen, Katharina Döbler, 22. Februar 2019

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